Der taube Teddybär

IC Writing

Es war einer dieser Herbst-Nachmittage an denen man nicht mal einen räudigen Hund vor die Tür jagen würde. Dichte schwere Wolken hatten schon am frühen Mittag den Himmel verdunkelt. Mittlerweile prasselten dicke Regentropfen im steten Stakato auf das Vordach der Veranda. Ein immerwährender Rhythmus, begleitet vom so typischen Rauschen des Wassers.

Tianna saß auf der breiten Fensterbank, eingekuschelt in ihre Schmusedecke, umgeben von ihren Lieblingskissen, und betrachtete mit ihren großen, dunklen Kinderaugen fasziniert was der Regen da draußen so alles machte. Immer wieder zeichneten ihre kleinen Fingerchen die kreisrunden Wellenlinien auf der Scheibe nach, die die Tropfen in dem kleinen Wasserbecken im Garten hinterließen. Sie fand das toll. Sie mochte Kreise.
Hin und wieder trommelten die kleinen Fingerchen auch das Stakato des Regens auf dem Vordach nach. Zumindest versuchten sie es. Nur waren ihre Finger noch nicht so geübt und sie kam irgendwie nicht so ganz mit dem Tempo mit. Aber das störte sie nicht. Sie fand es wohl eher lustig, kicherte sie doch immer wieder vor sich hin und begann von Neuem.

Kevin hatte es sich, wie so oft in den letzten Tagen, mit Decke und Kissen auf der Couch vor dem Kamin gemütlich gemacht. Wenn er schon liegen musste, dann doch bitte wenigstens da, wo er am Leben ein wenig teilnehmen konnte und nicht alleine in seinem Zimmer. Eigentlich hatte er vor gehabt das erzwungene Nichtstun mit einem guten Buch zu verbringen. Es lag mittlerweile unbeachtet auf seinem Bauch.
So wie Tianna die Welt da draußen beobachtete, sich an den vielen kleinen Dingen erfreute, beobachtete er seine kleine Nichte, leise lächelnd in seine ganz eigene, stille Gedankenwelt versunken. Er konnte das leise Trommeln der Fingerchen auf der Fensterscheibe nicht hören. Nur die Erinnerung formte Laute in seinem Kopf, füllte seine Vorstellung von dem, was sein könnte, ließ ihn ahnen, warum die Kleine immer wieder kichernd von vorne begann. Es war schon so viele Jahre her, dass er dem Regen gelauscht hatte, er selbst dessen Rhythmus gefolgt war, wie einem unsichtbaren Taktgeber.
Seine Nichte beobachtend glitten langsam die Gedanken weiter. Wie lange verstaubte die Geige und die Flöte nun schon in seinem Zimmer? Viel zu lange für seinen Geschmack. Er vermisste kaum etwas mehr als die Musik, die ihn bis zu jenem schicksalhaften Tag immer begleitete hatte, ein Teil seines Lebens gewesen war.
Unbewusst seufzte er leise bei dem Gedanken.

Tianna wendete den Blick vom Garten ab bei dem leisen Seufzer. Kurz runzelte sich die kleine Stirn, erschien diese kleine Sorgenfalte, die sich immer zeigte, wenn sie befürchtete ihrem Dad, ihrer Tante oder ihrem Onkel ginge es nicht gut. Sie hing an ihnen allen mit all ihrer Kraft und konnte es so gar nicht leiden, wenn es ihnen nicht gut ging. Onkel Kevin ging es gar nicht gut in den letzten Tagen. Sie ließ ihn kaum aus den Augen. Große fragende Augen sahen ihn kurz prüfend an. Ihre Bewegung hatte ihn wieder zurück geholt in das hier und jetzt. Er beantwortete die stumme Frage mit einem kleinen Lächeln und schickte sich an sich wieder seinem Buch zu widmen. Aber wenn er glaubte, er könnte seine kleine Nichte so einfach beruhigen, sah er sich ein Mal mehr getäuscht.
Flux schälte sie sich aus ihrer Kuscheldecke, rutschte die Fensterbank hinunter und eilte auf ihren kleinen Füßchen geschwind zu ihm. Als sie vor ihm stand betrachtete sie sich ihren Onkel sehr genau und schon formten die kleinen Händchen sichtlich aufgeregt die Frage, die ihr auf der Seele brannte: ‘Tut dir was weh?!’
Leise lachend fing Kevin die kleinen aufgeregten Hände ein, sah Tianna an und schüttelte leicht den Kopf. Sie schien davon mal gar nicht überzeugt, bohrte sich ihr fragender Blick geradezu in seine Augen als ob sie darin die Antwort finden könnte, die sie suchte. Schmunzelnd ließ er ihre kleinen Händchen wieder los und antwortete ihr mit seinen Händen: ‘Ich habe nur gesehen wie du mit deinem Fingern auf die Scheibe getrommelt hast. Das hat mich an früher erinnert.’
Aufmerksam sah Tianna seinen Gebärden zu und nickte dann.
‘Der Regen trommelt und ich wollte mit trommeln. Der Regen ist aber so schnell.’, kam prompt die Antwort. ‘Magst du mit trommeln?’
‘Wie trommelt denn der Regen?’
Tianna schaute ihn kurz grübelnd an, blickte dann zu der Fensterscheibe. Sie wusste, dass ihr Onkel nicht hören konnte und man mit ihm mit den Händen reden musste, wenn man etwas von ihm wissen wollte. Sie hatte auch sehr viel Spaß daran gehabt all die Zeichen zu lernen und war sehr stolz darauf das zu können. Andere Kinder konnten das nämlich nicht und sie gefiel sich in der Rolle der Dolmetscherin, wenn ihre Freunde mal zu Besuch waren. Aber so ganz verstanden hatte sie noch nicht, was es hieß nicht zu hören. Es war doch ganz selbstverständlich. Jeder konnte doch hören. Selbst wenn sie sich ganz doll die Finger in die Ohren steckte, konnte sie immer noch was hören. Daddy hatte ihr mal erklärt, dass Onkel Kevin nicht mal seine eigene Stimme hören konnte und das verstand sie gar nicht, wie das sein soll. Selbst wenn sie ihre Fingerchen in die Ohren bohrte, dass es schon weh tat, ihre eigene Stimme konnte sie immer hören. Onkel Kevin konnte auch normal sprechen. Manchmal machte er das jedenfalls noch. Also musste er sich doch auch hören können.
Es wurde Zeit dem auf den Grund zu gehen.

So vorsichtig sie konnte kletterte sie zu Kevin auf die Couch, setzte sich rittlinks auf seinen Bauch und erklärte mit sehr ernstem Gesicht: ‘Wenn ich ganz doll meine Finger in die Ohren stecke und dann singe, dann höre ich mich singen. Daddy sagt aber, du kannst das nicht hören. Also wenn du singst. Warum?’
Das Warum kannte er schon. Aber er kannte auch die Wissbegierde seiner Nichte. Mit lapidaren Antworten war da nichts zu machen. Sie würde solange nach bohren, bis sie sich die Welt erklären konnte.
‘Weil da was in meinen Ohren kaputt ist.’
‘Na dann muss man das doch wieder heile machen.’ Die prompte, logisch bestechende Antwort.
‘Das kann man aber nicht wieder heile machen. Das ist wie mit deinem Roller. Den konnte dein Daddy auch nicht wieder heile machen.’
‘Gut. Dann müssen wir dir eben neue Ohren kaufen!’ stellte Tianna ebenso einfach wie ernst und bestimmt fest.

Die Logik eines Kindes war immer irgendwie bestechend einfach. Kevin wusste wie ernst es Tianna war aber er konnte nicht anders. Er musste einfach lachen. Tianna fand das aber gar nicht witzig und fing an ihren Onkel mit ihren spitzen Fingerchen zu pieksen.

‘Man kann aber keine neuen Ohren kaufen. Das ist nicht so einfach wie mit deinem Roller.’
‘Warum nicht?’ Tianna schien ernsthaft entsetzt. Man konnte doch alles ersetzen, wenn es kaputt ging.
‘Weil wir Menschen noch nicht gelernt haben wie man Ohren baut um kaputte Ohren ersetzen zu können.’
Okay… DAS war einleuchtend. Aber das erklärte immer noch nicht, was taub sein eigentlich heißt.
‘Macht das Aua, wenn man nicht hört?’ Tianna war ehrlich besorgt. Sie mochte es nicht, wenn ihrem Onkel was weh tat. Er spielte zwar immer mit ihr, wenn ihr danach war aber sie merkte auch oft, dass er es zwar gerne tat aber es nicht so schön war für ihn wie für sie, weil er eben krank war und manche Sachen ihm weh taten. Aber dafür konnte man mit Onkel Kevin ganz toll stundenlang schmusen oder an ihn gekuschelt schlafen oder er las ihr ihre Lieblingsgeschichten vor. Das mochte sie eigentlich noch viel mehr.

‘Nein, kleine Maus. Das tut nicht weh.’
‘Ganz wirklich?!’ Die Skepsis stand ihr buchstäblich ins Gesicht geschrieben.’
”Ganz wirklich.’
Das beruhigte sie offensichtlich schon mal. Aber es klärte nicht die Frage wie es ist nichts zu hören.
‘Wie hört sich das an wenn man nichts hört?’

Gute Frage. Kinder stellten eigentlich immer gute Fragen. Nur mit den Antworten haperte es oft genug gewaltig. Wie erklärte man seiner kleinen Nichte nun, wie sich das „anhört“ nichts zu hören. Kevin grübelte eine Weile wie er es der Kleinen wohl am ehesten erklären konnte. Alles was ihm einfiel war einfach nur graue Theorie, die schon einem Erwachsenen nicht wirklich erklärte wie das war. Bei Tianna brauchte er damit erst gar nicht anzukommen. Die würde nichts akzeptieren, was sie nicht verstand.
Schließlich kam ihm ein Gedanke.

‘Mal sehen. Vielleicht kann ich es dir zeigen. Gib mir bitte mal die Fernbedienung vom Fernseher.’
Zeigen war immer gut. Sofort rutschte Tianna vom Sofa herunter, holte die Fernbedienung und reichte sie Kevin.
Der schaltete das Gerät und den DVD-Player ein. Sofort begann wieder der Zeichentrick-Film, den sie heute Mittag zusammen gesehen hatten. Das war schon fast interessanter als die Frage wie sich das anhört wenn man nichts hört. Aber nur fast.
‘Den haben wir aber schon gesehen, Onkel.’
‘Ich weiß. Aber ich zeige dir jetzt, wie sich das für mich anhört, wenn wir den Film sehen. Ok?’
Heftig nickend und auf den Bildschirm schauend wartete Tianna gespannt darauf, was nun passieren würde. Kevin schaltete den Ton aus. Irritiert blickte Tianna ihn an.
‘Wieso machst du den Ton weg? Da kann ich ja gar nicht mehr hören was die sagen!’ Der vorwurfsvolle Ausdruck in ihrem Gesichtchen wich plötzlich einer neuen Erkenntnis.
‘Oh. Du hörst nur den Regen?’
Kevin schüttelt leicht den Kopf.
‘Nein. Auch den Regen kann ich nicht hören. Das ist für mich genauso wie der Film ohne Ton für dich.’
‘Aber deine Stimme hörst du doch, wenn du was sagst…?’
‘Nein, nicht mal meine eigene Stimme, Kleines.’

Tianna schaute auf den Fernseher und hielt sich ganz fest die Ohren zu. Eine Weile schaute sie dem stummen Geschehen auf dem Bildschirm zu. Schließlich senkte sie die Händchen wieder, schaut Kevin sehr traurig an und langsam formen ihre Händchen: ‘Das ist nicht schön. Dann kannst du ja gar nicht die Musik hören…’
Sachte zog Kevin seine kleine Nichte wieder zu sich auf die Couch. Er wusste, dass musste sie erst Mal verdauen. Denn die Liebe zur Musik teilte sie schon von jeher mit ihm.
Eng kuschelte sich Tianna an ihren Onkel, legte die kleinen Ärmchen um seinen Hals, nachdem sie zu ihm unter die Decke geschlüpft war. Zärtlich nahm er sie in seinen Arm, strich sanft über ihr Köpfchen mit dem wuscheligen rotblonden Locken.

Es vergingen ein paar Tage. Tianna beschäftigte der Gedanke, dass ihr Onkel nicht mal die schöne Musik hören konnte, doch sehr. Sie war ein wenig stiller geworden, in sich gekehrter. Immer wieder mal hielt sie sich bei einem Film oder wenn Musik in der Anlage lief, ganz fest die Ohren zu.
Sie begann ihren Daddy und ihre Tante zu löchern, ob es wirklich keine neuen Ohren zu kaufen gäbe. Irgendwas musste man doch tun können. Aber so oft sie auch fragte, es gab keine neuen Ohren für ihren Onkel. Das machte sie richtig traurig. Auch die Idee, als sie ihrem Teddy kurzerhand die Ohren abschnitt und diese dann ihrem Onkel schenken wollte, hatte nicht die erhoffte Wirkung. Also fragte sie ihren Daddy, was denn wäre, wenn man ihr ein Ohr abschneiden würde. Das könnte doch Onkel Kevin dann haben. Ihre Ohren seien ja noch heile und sie hätte ja zwei… Sie suchte tagelang verzweifelt nach einer Lösung für das Problem aber nichts von dem, was ihr einfiel wollte den Erwachsenen gefallen. Alles ging irgendwie nicht.

Eines Tages kam Tianna aufgeregt in Kevins Zimmer gestürmt. Sie hatte etwas entdeckt und das musste sie unbedingt sofort ihrem Onkel zeigen. Kevin konnte sich nicht vorstellen um was es ging, aber ließ sich dennoch bereitwillig ins Wohnzimmer schleifen. Dort angekommen verrieten ihm die Leuchtdioden der Anlage, dass diese gerade lief. Schnurstracks lief Tianna zu eine der beiden großen Boxen, die im Wohnzimmer standen, setzte sich davor und winkte ihren Onkel zu sich. Dann hielt sie sich die Ohren ganz fest zu, wartete einen Moment und begann dann leicht im Takt der Musik mit dem kleinen Oberkörper zu wippen. Sie strahlte ihren Onkel an, als der zu ihr kam, nahm die Hände von den Ohren und aufgeregt formten ihre Händchen die Worte: ‘Man kann Musik auch fühlen! Schau!’ Sie nahm eine Hand ihres Onkels und legte sie sachte auf die Box.

Es war eigentlich nichts Neues, dass man die Schwingungen der Boxen auch fühlen konnte. Nur war Kevin nicht auf das gekommen, was der Kopf seiner kleinen Nichte daraus schlussfolgerte. Die schaute ihn gerade erwartungsvoll an, ob er spürte was sie gespürt hatte. Leise lachend nickte Kevin nur. Freudestrahlend klatschte Tianna in die Hände und war auch schon wieder aus dem Zimmer gestürmt, sehr zur Verwunderung Kevins, der sich darauf nun so gar keinen Reim machen konnte.
Nur wenige Minuten später kam Tianna zurück, auf ihren Händen ganz vorsichtig Kevins alte Geige balancierend. Stirnrunzelnd wartete Kevin ab, was sie nun wohl vor hatte. Bei ihm angekommen reichte Tianna ihm die Geige und legte eine seiner Hände auf den Korpus des Instrumentes. Dann zupfte sie ein Mal kräftig an einer der Saiten. Kevin spürte das leise vibrieren im Korpus der Geige und irgendwie erschien ihm das auch logisch. Tianna schaute ihn gespannt an. Wieder nickte er. Es war klar, was sie wissen wollte und ja, auch diesen Ton hatte er gespürt. Tianna zupfte an einer anderen Saite. Wieder spürte er den Ton im Korpus vibrieren aber leichter dieses Mal, sanfter, irgendwie anders… Allmählich begann es ihm zu dämmern, worauf seine kleine Nichte hinaus wollte. Er zupfte selbst probeweise die eine oder andere Saite, die anderen Hand immer auf dem Korpus des Instrumentes lassend. Es gab Unterschiede in den Tönen, wie sie den Korpus zum Vibrieren brachten. Manchmal ganz deutliche, manchmal kaum zu unterscheiden und doch war da etwas anders. Er war so fasziniert, dass er darüber seine kleine Nichte fast vergaß. Die stand vor ihm, mit großen strahlenden Augen und beobachtete wie ihr Onkel genau das herausfand, was sie den ganzen Tag über mit ihrer eigenen kleinen Kinder-Geige festgestellt hatte: Musik kann man auch fühlen. Man brauchte gar keine heilen Ohren!

An diesem Abend erklangen nach vielen Jahren das erste Mal wieder zögerliche Töne der Geige aus Kevins Zimmer. Es brauchte noch viele, viele Monate, bis er gelernt hatte zu fühlen, was andere hören konnten, zu spüren, wann ein Ton richtig war und wann nicht. In all der Zeit war fast immer seine kleine Nichte dabei, die energisch den Kopf schüttelte, wenn ein Ton richtig daneben lag aber auch aufgeregt klatschte bei jedem Ton, der richtig war. Zu zweit lernten sie die Welt der Musik neu zu entdecken.
Auch wenn Kevin trotzdem nicht mehr oft auf der Geige spielte und auch nie wieder den Perfektionismus erreichte, den er früher ein Mal hatte, so zeigte ihm seine kleine, knapp 5-jährige Nichte, dass Musik auch für ihn nicht ganz verloren war.

Eines Tages, viele Wochen später, kam Tianna mit ihrem Ohr-losen Teddy zu Kevin, kletterte zu ihm auf den Schoß und meinte: ‘Teddy ist nun auch taub. Darf er bei dir wohnen? Dann seid ihr nicht so allein. Ihr versteht euch bestimmt besser als alle anderen Menschen euch verstehen.’
Teddy wurde zum steten Begleiter, egal wohin Kevin musste.

 

https://www.youtube.com/watch?v=yTN9jn8_FZ0

Vic
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Klein, bekloppt, chaotisch, unkonventionell und erwachsen werden ist nicht mehr drin. ;) Technik-affin, Spiele-Freak, Leseratte und noch so einiges mehr. Vor allem aber ohne meine Fellnase(n) total aufgeschmissen! Willkommen in meiner kleinen, verrückten (Märchen-)Welt. Noch Fragen? Dann fragt doch einfach! ;)